Von der Teilhabe zur Selbstorganisation: Eine neue Governance-Form im Zeichen des Klimawandels?

Vor bald 30 Jahren kam es zum Zusammenbruch des „Ostblocks“ und der Sowjetunion, der die Sozial- und Wirtschaftsordnungen in Ost wie West grundlegend veränderte. In die Euphorie der Stunde mischten sich sogleich erste Forderungen nach neuen – vor allem wirtschaftlichen – Freiheiten, die aus den politischen folgen sollten. „Mehr Markt, weniger Staat“ schien das Gebot der Stunde. Die Folge waren weitreichende politische Anpassungen an vermeintliche oder tatsächliche wirtschaftliche Sachzwänge, die oftmals mit der Globalisierung begründet wurden und gerade in Deutschland noch kurz zuvor für unmöglich gehalten wurden.

In den 2000er Jahren setzte die Rot-Grüne-Koalition diesen wirtschaftsnahen Kurs in der Sozialpolitik mit ihrer „Agenda 2010“ fort. Sie löste sich von den wohlfahrtsstaatlichen Grundkoordinaten der Nachkriegsrepublik, indem sie immer stärker zum Prinzip „Fördern und Fordern“ überging. Insbesondere bei der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik zeigte sich die Abkehr vom alten, fürsorgenden Regime hin zum neuen, aktivierenden Staat. Der Einzelne muss nun kompensatorisch handeln, um den neuen finanziellen und moralischen Risiken begegnen zu können. Der Staat erscheint als Manager der Bevölkerung, nicht mehr als derjenige, der durch geeignete Strukturpolitik Chancen und Möglichkeiten der Teilhabe eröffnet. Als Grundcredo erfolgreichen Regierens kann seit jener Zeit der schlanke, fordernde Staat gelten, der nicht mehr paternalistisch-großzügig verwaltet, sondern neoliberal-aktiv gestaltet und dabei Risiken des Scheiterns auf die Individualebene verlagert, statt sie grundsätzlich abzufangen.

Hinzu kommen weitreichende Verunsicherungen über die eigene und gesellschaftliche Zukunft bis weit in die Mittelschichten hinein. Sie lassen manche von einer „Gesellschaft der Angst“ sprechen, die kaum mehr positive Zukunftschancen formulieren kann. Es profitieren gerade in Deutschland viele von den neuen marktwirtschaftlichen Freiheiten, der Preis ist aber eine Transformation der Lebenswelten hin zu einer Verunsicherung und „Beschleunigung der Gesellschaft“: Zyklen werden schneller, Werte vergänglicher, Zukünfte schneller obsolet, so dass Verlässlichkeit und Planbarkeit der Lebensentwürfe abnehmen. Ähnliches gilt für die politische Sphäre, wo das Vertrauen in die Problemlösungskompetenzen und Zukunftspotenziale von Parteien und Parlamenten sinkt.

Diese Verschiebung zeigt sich auch auf dem Gebiet des zivilgesellschaftlichen Engagements. War es früher üblich und oftmals sogar familientypisch vorgegeben, sich in ‚seinem’ Verein oder den lokalen Helferdiensten (Technisches Hilfswerk, Feuerwehr u.a.) zu engagieren, wird diese Tätigkeit nun zunehmend individualisiert. Zwar ist das Ehrenamt und das soziale Engagement gerade unter jungen Menschen weiterhin beliebt und angesehen, es wird aber zusehends unter Effizienzgesichtspunkten betrachtet: Was bringt mir ein – zumeist nur kurzfristig wahrgenommenes – Ehrenamt für den Lebenslauf ein, steigert es mein soziales Kapital? Staatliche Institutionen ebenso wie Arbeitgeber belohnen diese Strategien, indem sie ein solch individuelles Engagement anerkennen und unterstützen. Sie fördern damit einen Perspektivwechsel hin zum „unternehmerischen Selbst“ als erfolgreichen Gestalter des Karriereweges. Im Ergebnis stützen sie den hier skizzierten Systemwandel, der von einer Vermarktwirtschaftlichung des Individuums und der Individualisierung seines sozialen Engagements geprägt ist. Dies mag nicht strategisch von Seiten der Akteure und Institutionen angestrebt sein, ist aber eine nicht-intendierte Nebenfolge solcher Policy-Systeme.

Wo wir stehen: Freier Markt als Governance der Individuen

Was in der öffentlichen Diskussion weithin aus dem Blick gerät, ist das spezifische Politikverständnis, das sich mit solch einem Modell herausbildet: Aktive, demokratieüberzeugte Individualisten bringen sich partizipativ in lokalen wie internationalen Initiativen ein – sei es in Vereinen, NGOs oder Parteien. So werden sie zu Mitgestaltern des an sich erfolgreichen Gesellschaftssystems. Was aber, wenn man dieses Modell, gerade in der Klimapolitik, als defizitär betrachtet und ablehnt? Welche Wege stehen Menschen offen, die sich nicht nur im Hinblick auf eigene Lebensentwürfe sozial oder ökologisch engagieren, sondern vor allem mit dem Ziel, neue Strukturen einer anderen, besseren Gesellschaft zu etablieren? Sie müssen sich selbst organisieren und eigene, neue Strukturen und Räume schaffen.

Das bisherige Partizipationsmodell gesellschaftlichen Engagements ist also zum einen sehr voraussetzungsvoll, zum anderen wirkt es strukturverstärkend statt -verändernd. Daher wird leicht übersehen, dass bürgerschaftliches Engagement und Ehrenamt oftmals bereits Etablierte benötigen, die sich auf den eingespielten Pfaden gegenwärtiger Demokratieformen bewegen. Unzufriedene und Kritiker des Systems werden aber so weder angesprochen, noch lässt sich ihr eigenes Handeln damit erklären. Sie bevorzugen selbst geschaffene Initiativen mitsamt ihren neuen sozialen Umwelten, die vor allem im ökologischen Bereich systemverändernd oder doch zumindest systemgestaltend angelegt sind. Die Initiativen zur Solidarischen Landwirtschaft oder die Transition-Town-Bewegung geben solchen neuen Formen des gesellschaftlichen Engagements bereits einen konkreten Ausdruck.

Dieser Artikel erschien in Ausgabe 01 2017 der Spektrum der Uni Bayreuth.