Um einen nachhaltigen Entwicklungspfad einzuschlagen, bedarf auch die Wissenschaft der Expertise von zivilgesellschaftlichen Akteuren. Wissenschaft muss den Elfenbeinturm verlassen und mit den Selbstorganisations-Gruppen neue Lehr- und Lernformen zur Generierung eines transformationsrelevanten Wissens entwickeln. Soziale Innovationen sind gefragt wie noch nie. Sog. Reallabore ermöglichen diese Co-Produktion von Wissen. Dieser Textbeitrag will zur Teilnahme an einer transformativen Wissenschaft anregen und gibt hierzu das notwendige Hintergrundwissen.
Uwe Schneidewind und Mandy Singer-Brodowski weisen in ihrer Veröffentlichung „Transformative Wissenschaft“ (2014) der Wissensproduktion und der Wissensverbreitung und damit dem Wissenschaftssystem im Rahmen der „Großen Transformation“ zur Nachhaltigkeit eine herausragende Bedeutung zu. Gesellschaftliche Veränderungen waren in den letzten 200 Jahren stark wissenschaftsgetrieben. Im Zeitalter des „Anthropozäns“ (Crutzen 2002) jedoch, in der der Mensch erstmalig zentrale geo-ökologische Prozesse beeinflusst, rücken die ökologischen, ökonomischen und sozialen Nebenfolgen des wissenschaftsgetriebenen Erfolgs in den Mittelpunkt der Handlungsnotwendigkeiten (Schneidewind & Singer-Brodowski 2014). „Die Menschheit muss sich in der Art ihrer gesellschaftlichen Organisation in vielerlei Hinsicht neu erfinden, wenn sie die Errungenschaften der Moderne bewahren möchte. Vieles deutet daraufhin, dass ein solcher Umbruch auch Rückwirkungen auf die Art der Wissensproduktion und das Wissenschaftssystem im „Anthropozän“ haben muss“ (Schneidewind & Singer-Brodowski 2014: 22). Um sich der großen gesellschaftlichen Herausforderungen zu stellen, bedarf es einer transformativen Wissensproduktion. Eine transformative Wissensproduktion unterstützt und begleitet nach Schneidewind und Singer-Brodowski den Gestaltungsprozess zu einem langfristig natur- und menschenverträglichen Entwicklungspfad. Wenn Gesellschaften heute adäquate Antworten auf Probleme wie Ressourcenknappheit, Peak-Oil und Klimaschutz und Klimaanpassung, soziale Polarisierung und Teilhabe finden müssen, dann bedarf es neuer Wege und Kooperationen zwischen Zivilgesellschaft, Praxisakteuren und Wissenschaft.
Um komplexe gesellschaftliche Transformationsprozesse besser zu verstehen und auch wissenschaftlich aktiv begleiten zu können, gilt es System-, Ziel- und Transformationswissen zu generieren und kooperative Organisationsstrukturen in der Wissensproduktion anzulegen, die Zivilgesellschaft als Akteure der Wissensproduktion einzubeziehen und damit Reallabore für den Wandel zu konzipieren (Schneidewind & Singer-Brodowski 2014: 123).
Was heißt nun „transdisziplinäre Wissenschaft“, „soziale Innovationen“ und „Reallabore“?
Das Ziel einer transdisziplinären Wissenschaft ist es, System-, Ziel- und Transformationswissen für die Ablösung eines nicht-nachhaltigen, postfossilen Gesellschaftsmodells zu generieren.
Dubielzig & Schaltegger (2004: 6, Hervorhebungen durch Sabine Hafner) unterscheiden:
- „Systemwissen: Wissen über die komplexen Zusammenhänge lebensweltlicher Probleme auf sozialer, ökologischer und ökonomischer Ebene und zwischen den Dimensionen (Wissen darüber, was ist).
- Zielwissen/Wissen über Bewertung: Wissen darüber, wie sich Normen begründen lassen und wie sich die Optionen der drei Dimensionen der Nachhaltigkeit verknüpfen lassen in Form von tragfähigen Naturzuständen, zukunftsfähigen Lebensstilen usw. (Wissen darüber was sein und was nicht sein soll).
- Transformationswissen: Wissen darüber, wie sich die Ziele erreichen lassen, also wie der Übergang vom Ist- zum Soll-Zustand zu gestalten und umzusetzen ist (Wissen darüber, wie wir vom Ist- zum Soll-Zustand gelangen)“.
Zur Zielerreichung ist die Orientierung an gesellschaftlichen Herausforderungen und die Wissensintegration nicht allein über Disziplingrenzen hinweg (Interdisziplinarität), sondern auch der Einbezug des Erfahrungs- und des Kontextwissens relevanter Akteure erforderlich. Nur so kann “robustes Wissen” für Transformationsprozesse gewonnen werden, das sowohl in das Wissenschaftssystem als auch zu den Akteuren außerhalb der Wissenschaft / zu den Praxisakteuren hin anschlussfähig ist (Schneidewind, Ernst & Lang 2011: 134).
Ein Kennzeichen transdiziplinärer Forschungsmethoden ist die Verflechtung von Lernen und Forschen – sie sind gleichzeitig Lehr- und Lernansätze (Dubielzig & Schaltegger 2004: 5). Die Wissenschaft lernt einerseits bei den Praxisakteuren, indem sie grundsätzlich über ihre Methoden und Erkenntnisinteressen reflektiert und Fragestellungen aufgreift, die aus lebensweltlichen Zusammenhängen entstehen. Dies sind Phänomene, welche die Praxisakteure als ein Problem Nachhaltiger Entwicklung bewerten. Andererseits lernen die Praxisakteure bei der Wissenschaft, indem diese ein Phänomen der Lebenswelt als ein Problem bewertet, das die Praxisakteure bisher entweder nicht wahrnehmen oder nicht als ein Problem ansehen (Mogalle 2001, 40 zit. in Dubielzig & Schaltegger 2004: 6). Die Beschreibung der „Issues“ – lebensweltliche Problem- und Fragestellungen – wird somit nicht von außen vorgegeben, sondern unter Partizipation aller in die Problemlösung eingebundenen Personen entwickelt Dubielzig & Schaltegger 2004: 9).
Das Wissen über die gesellschaftliche Transformation wirkt dabei auf die Gesellschaft zurück. Indem wissenschaftliches Wissen genutzt wird, werden auch die Veränderungsprozesse beeinflusst. Der Wissenschaftler bzw. die Wissenschaftlerin ist immer auch zugleich Teil der von ihm oder ihr untersuchten Veränderungsprozesse (Schneidewind 2014: 2). Zudem liefern die (unabhängig von wissenschaftlichen Prozessen stattfindenden) Transformationsprozesse kaum ausreichende empirische Hinweise für die Funktionsmechanismen erfolgreicher nachhaltigkeitsorientierter Transformationsprozesse. Aus diesem Grund versuchte Self City auch die Logiken und Funktionsweisen der Selbstorganisation zu untersuchen. Uwe Schneidwind sieht eine wissenschaftlich angeleitete Intervention in reale politische, soziale und gesellschaftliche Kontexte als ein wichtiges Mittel zum besseren Verständnis kausaler Verknüpfungen in diesen Systemen (Schneidewind 2014: 2).
Damit wird der „experimental turn“ verständlich, der derzeit in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften zu beobachten ist. Gesellschaftliche Transformation ist ein Such- und Lernprozess mit offenem Ausgang, der von Praxisakteuren und Wissenschaftler/-innen gemeinsam getragen wird und der die rein beobachtungs- und modellgestützten Ansätze in den wissenschaftlichen Disziplinen erweitert (Schneidewind 2014: 2). Es sind nicht die wissenschaftlichen Krisendiagnosen und Ursachenanalysen – so qualitätsvoll sie auch sein mögen – sondern die Etablierung neuer Leitplanken zur Orientierung und überzeugende Handlungskonzepte (WBGU 2011: 256), die für eine Transformation tragend werden.
Neue Handlungskonzepte entstehen im Rahmen von sozialen Innovationen. d.h. neuer institutioneller und kultureller Gestaltungskompetenzen zur Stärkung der Anpassungs- und Widerstandsfähigkeit. Soziale Innovationen fokussieren vor allem auf „nichtmaterielle Neuerungen“ (Rückert-John 2013: 13). Soziale Innovationen sind eine von „[…] Akteurskonstellationen ausgehende zielgerichtete Neukonfiguration sozialer Praktiken, die auf eine bessere Problemlösung zielt, als dies auf der Grundlage etablierter Praktiken möglich ist“ (Howaldt & Schwarz 2010: 89).
Für die Generierung von sozialen Innovationen braucht es neue experimentelle Plattformen, auf denen neue Lebens- und Konsummuster erarbeitet und gelebt und somit auf Prakikabilität überprüft werden können und auf denen Bekanntes mit Neuem arrangiert werden kann. Sie sollten folgenden Fragen nachgehen: Welche nachhaltigen Zukünfte sind wünschenswert und denkbar? Welches Veränderungswissen und welche Instrumente benötigen wir, die der Vielschichtigkeit des notwendigen Transformationsprozesses zu einem menschengerechten und naturverträglichen Entwicklungspfad gerecht werden? Wie kann das Alltagswissen der gestaltenden Akteure in die Wissensproduktion einbezogen werden, so dass es für eine transformative Praxis handlungsleitend wird?
Forschung wird zu einer „transformativen Forschung“ (WBGU 2011) bzw. zu einer „transformativen Wissenschaft“ (Schneidewind & Singer-Brodowski 2014): sie begleitet Transformationsprozesse aktiv und katalysiert sie, um die besser zu verstehen zu können (Schneidewind 2014). Selbstorganisations-Gruppen sind wichtige Akteure in einer transformativen Wissenschaft, da sie neues Wissen entwickeln, die neue Wissensanwendung praktizieren und gleichzeitig diese mit den Wissenschaftler/-innen im Kontext eines Reallabors reflektieren.
Schneidewind (2014: 3) definiert ein Reallabor wie folgt: „Ein Reallabor bezeichnet einen gesellschaftlichen Kontext, in dem Forscherinnen und Forscher Interventionen im Sinne von „Realexperimenten“ durchführen, um über soziale Dynamiken und Prozesse zu lernen. Die Idee des Reallabors überträgt den naturwissenschaftlichen Labor-Begriff in die Analyse gesellschaftlicher und politischer Prozesse. Sie knüpft an die experimentelle Wende in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften an. Es bestehen enge Verbindungen zu Konzepten der Feld- und Aktionsforschung“.
Kriterien von Reallaboren sind (Schneidewind 2014: 3 in Anlehnung an MWK Baden-Württemberg 2013: 30):
- Das gemeinschaftliche Entwerfen und Konzipieren sowie Durchführen des Forschungsprozesses von wissenschaftlichen Akteuren und Zivilgesellschaft bzw. Praxisakteuren;
- Ein transdisziplinäres Forschungsverständnis aller involvierten Akteure;
- Die langfristige Begleitung und Anlage des Forschungsdesigns;
- Ein breites am Forschungsprozess beteiligtes disziplinäres Spektrum („Multidisziplinarität“)
- Die kontinuierliche methodische Reflektion des Vorgehens
- Die Koordination soll möglichst von Institutionen vorgenommen werden, die in transdisziplinären Prozessen erfahren sind.
Die Mitarbeit und Teilnahme in Reallaboren von zivilgesellschaftlichen Akteuren ist nicht trivial und an Voraussetzungen gebunden – dies hat das Projekt Self City ergeben (obwohl dieses nicht alle Kriterien eines Reallabors erfüllt):
- Zu den – meist im Ehrenamt übernommen – Aufgaben kommen nun auch noch Arbeiten für die transformative Wissenschaft. Es droht die Gefahr der zeitlichen Überforderung.
- Weiterhin bedarf es des Aufbaus einer Vertrauensbasis. SO-Gruppen müssen sich für die gemeinsame transformative Wissenschaft öffnen und Einblicke in die internen Abläufe zulassen und die Bereitschaft aufweisen, diese mit Hilfe der Wissenschaft zu verändern.
- Ehrenamtliche Akteure mit nicht akademischen Hintergrund können vom wissenschaftlichen Ansatz eher „abgeschreckt“ sein und müssen erst durch besonders niederschwellige Aktionen zur Mitarbeit angeregt werden. „Sprachbarrieren“ bedürfen der Überwindung.
An diesen Hürden kann selbstverständlich gearbeitet werden – bspw. durch Aufwandsentschädigungen, kleine Gehälter für die Praxisakteure, durch das Einplanen von einer langen Phase des Aufbaus einer gemeinsamen Sprachfähigkeit etc. Reallabore stellen in unseren Augen eine äußerst bedeutende Form der Wissensgenerierung für die Transformation dar und die Aufforderung kann nur lauten: Wissenschaftler/-innen und Praxisakteure öffnet euch für diese gesellschaftlich so bedeutende Wissensgenerierung. Und: es macht auch sehr viel Spaß!
Story
Zu einem interessanten Ergebnis kam ein Reallabor an der Hochschule der Künste in Stuttgart zu der Frage, wie gehen wir mit Fläche um (siehe Schneidewind in Sommer & Welzer 2017: 185)? Die Vorgabe war ein Moratorium: keine neue Fläche wird in Anspruch genommen. Diese politische Setzung für Nachhaltigkeit in der Siedlungsentwicklung war auch der Keim für neue Kreativität: „Wenn du erst mal sagst, da kommt kein Stück Fläche mehr dazu, und jetzt lasst mal überlegen, wie wir mit dem, was wir an Fläche haben, kreativ umgehen, wie wir die Fläche intelligenter nutzen, wie wir das besser teilen, entstehen plötzlich völlig neue Raum- und Wohnungskulturen. Und möglich wird das erst, wenn der klassische lineare Pfad radikal gekappt wird“ (Uwe Schneidewind im Interview in Sommer & Welzer 2017: 185). Modelle des Spacesharing für eine flächensparende Siedlungsentwicklung entstehen. In der Zusammenarbeit von Wissenschaft und Zivilgesellschaft können unter neuen politischen Vorgaben und Rahmenbedingungen, kreative Entwürfe für ein gutes Leben entstehen.
Literatur:
Crutzen, P. (2002): Geology of mankind. In: Nature 415/2002.
Dubielzig, F. & Schaltegger, S. (2004): Methoden transdisziplinärer Forschung und Lehre. Ein zusammenfassender Überblick. Lüneburg.
Howaldt, J. & Schwarz, M. (2010): „Soziale Innovation“ im Fokus. Skizze eines gesellschaftstheoretisch inspirierten Forschungskonzepts. Bielefeld.
Rückert-John, J. (2013): Einleitung. In: Rückert-John, J. (Hrsg.): Soziale Innovation und Nachhaltigkeit. Perspektiven sozialen Wandels. Wiesbaden: 13-18.
Schneidewind, U. & Singer-Brodowski, M. (2014): Transformative Wissenschaft. Klimawandel im deutschen Wissenschafts- und Hochschulsystem. Marburg.
Schneidewind, U. (2014): Urbane Reallabore – ein Blick in die aktuelle Forschungswerkstatt. In pnd online: ein Magazin mit Texten und Diskussionen zur Entwicklung von Stadt und Region. Online verfügbar unter: www.planung-neu-denken.de, Zugriff am 20.12.2017.
Schneidewind, U., Ernst, A. & Lang, D. (2011): Institutionen für eine transformative Forschung. Zur Gründung der NaWis-Runde. In: GAIS 20/2: 133-135. Online verfügbar unter: https://epub.wupperinst.org/frontdoor/deliver/index/docId/3804/file/3804_Schneidewind.pdf, Zugriff am 24.04.2018.
Sommer, B. & Welzer, H. (2017): Interview mit Uwe Schneidwind. In: Sommer, B. & Welzer, H. (Hrsg.): Transformationsdesign. Wege in eine zukunftsfähige Moderne. München: 183-184.
Wissenschaftlicher Beirat Globale Umweltveränderungen (WBGU) (2011): Welt im Wandel. Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation. Berlin.