Die Sehnsucht nach Gemeinschaft oder die Transformation vom ICH zum WIR

In Gemeinschaft sein ist neben dem inhaltlichen Tun – dem Einsatz gegen Klimawandel, für Integration von Geflüchteten, für eine dezentrale, bürgerschaftlich organisierte Energiewende – das zentrale Moment für das Mitwirken in selbstorganisierten Gruppen. Menschen suchen gemeinsam geschaffene Räume, die individuelle Entfaltung und gleichzeitig mitfühlende Gemeinschaft ermöglichen.

Auch die Wissenschaft macht sich Gedanken zu einem gelingenden Zusammensein. Stellvertretend sei hier auf Hartmut Rosas „Soziologie der Weltbeziehungen“ verwiesen. Sie versucht eine vermeintlich „private Frage“ nach dem „guten Leben“ zu verallgemeinern. Das gelingende Zusammensein wird auch verständlich wenn man sich sein Gegenstück ansieht – die Entfremdung: Es ist das kalte, starre und isolierte Sein des Subjekts, das sich von der Welt getrennt empfindet. Stummer Schmerz, Depression, Nicht-Fühlen, Taubheit oder Kälte sind die Folge. Diese Entfremdung ist ein Charakteristikum spätmoderner Gesellschaft – sie ist eine „Beziehung der Beziehungslosigkeit“ (Rahel Jaeggi). Entfremdung ist ein Zustand, indem man zwar Beziehungen hat (in der Arbeit, im Verein), diese einem aber weitgehend bedeutungslos geworden sind. „Sie sagen uns nichts mehr, sie stehen uns stumm und /oder bedrohlich gegenüber: im Extremfall (…) auch gegenüber dem eigenen Körper und den eigenen Gefühlen (…)“ (Rosa 2016: 305). Das Gefühl der Taubheit und des nicht resonanten Antwortverhältnisses wie in einer Echokammer wird dann mit Konsum (eines neues Handys, eines Kleidungsstücks, Kosmetik…) versucht zu übertünchen. Das Glückserlebnis hält nicht lange an und wir sind wieder verwiesen auf entfremdete Verhältnisse oder auf das nächste Shoppingerlebnis. Die Sehnsucht nach Vergemeinschaftung ist groß.

Gemeinschaft hat geschichtlich betrachtet einen fundamentalen Bedeutungswandel erfahren. In der Spätmoderne hat sich der überzeitlich verbindende und sinnstiftende, ideologisch und empathisch stark aufgeladenen Gemeinschaftsbegriff in posttraditionalen Vergemeinschaftsformen (Rosa 2010: 61ff.) aufgelöst. Was ist nun Gemeinschaft: in Gemeinschaft grenzen wir uns gegenüber einem „Nicht-Wir“ ab. Es sind ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, gemeinsame Interessen, eine intersubjektiv anerkannte Wertsetzung sowie der Zugang zu gemeinsamen Interaktionszeiträumen vorhanden (Rosa et al. 2010: 62).

Ein gutes Leben nach Hartmut Rosa ist ein resonantes, lebendiges und antwortendes Verhältnis zwischen Subjekten und Welten, die sich beidseitig und allseitig leiblich berühren und berührt werden. Im „Mit(einander)sein“ antwortet der oder die andere, indem sie mit einer eigenen Stimme spricht und offen genug ist, um sich affizieren oder erreichen zu lassen. Ein gutes Leben ist eine Antwort- oder Resonanzbeziehung, die sich durch einen spezifischen resonanten Bezeihungsmodus definiert, der sich in einem wechselseitigen, subjektiv wie intersubjektiv geteilten Berührsein, Berühren und Berührtwerden ausdrückt (Rosa 2016: 284). Nicht von ungefähr nimmt Hartmut Rosa eine begriffliche Anleihe aus Physik und Technik: Resonanz ist hier das verstärkte Mitschwingen eines schwingfähigen Systems. Das System kann um ein Vielfaches stärker ausschlagen al beim konstanten Einwirken der Anregung mit ihrer maximalen Stärke. Das System nimmt bei jeder Schwingung erneut Energie auf und speichert sie.

Das Gelingen des Zusammenlebens zeigt sich nach Hehl (2017) in der „Kunst des Mitseins der einzelnen Gruppenmitglieder und der Gruppe als Ganzes. Die Kunst des Mitseins bedeutet bedingungslos mit dem sein zu können, das ist ohne sich darin zu verlieren. Das bedeutet in gleichermaßen in responsable bzw. (ver)antwortliche Beziehung zu sich selbst und der Gruppe bzw. „Welt“zu treten“ (Hehl 2017: 36). Die Kunst des Zusammenseins muss gelernt werden. In gemeinsamen Erfahrungsräumen finden Menshen die Möglichkeit für sich und gleichzeitig als Gruppe zu lernen, „was es heißt mit dem zu sein, das gerade hier und jetzt in ihnen, um sie herum, durch sie und zwischen ihnen ist, unabhängig davon, ob sie es als angenehm oder unangenehm beurteilt hätten. Es ist nicht mehr der Versuch das Seiende zu kontrollieren, ignorieren, zu stigmatisieren, zu betäuben oder zu heilen, sondern dessen akzeptieren und „es so sein lassen“. Durch dieses Annehmen verwandelt sich das gemeinsam Erlebte und Geteilte schließlich in den Stoff, der die Gruppe verbindet“ (Hehl 2017: 37). Damit wird auch klar, dass gelingendes selbstorganisiertes Zusammensein Zeit braucht. Jonas Hehl (2017) identifiziert vier Phasen: die Pseudophase: hier wird meist Gemeinschaftsbildung vorgetäuscht – durch Freundlichkeit, durch die Vermeidung von Dissens. Sie funktioniert jedoch nie und wird durch die Phase des Chaos abgelöst, i der sich die Gruppe nicht selten selbst zerstört. Hier werden Differenzen und Dissonanzen offen. Durch das Leere mit Risikobereitschaft ins Unbekannte ermöglicht schlussendlich authentische Gemeinschaft (Hehl 2017: 30ff).

In einem gelingenden Zusammensein, in einer resonanten Beziehung, wirken nach Hehl unterschiedliche Ebenen zusammen: 1) das „Ich“ in Selbstliebe und Selbständigkeit; 2) das „Andere“ – das Du bzw. Ihr, die dem „Ich“ zum lebendigen Gegenüber, Spiegle, Freund und Gefährt/-in werden; 3) das gemeinsame „Wir“, das durch ein gemeinsames Fühlen und Austauschen entsteht und als transsubjektives Emergenzphänomen die Isolation des Subjekts zeitweilig auflöst. Die Frage ist hier, ob wir als Ichs reif genug sind, ein Wir zu werden. „Im idealen Erfahrungsraum herrscht eine einladende, wohlwollende, wertschätzende, respektvolle, interessierte, aufmerksame, gelassene und friedvolle Gruppenstimmung. Es ist ein bedingungsloses Sein und Mitsein. Alles darf sich hier zeigen und wird gesehen. Es darf sich erfahren in dir, in mir und im Wir. Aus dieser wechselseitigen Resonanzverstärkung, kann ein transzendentes Emergenzphänomen entstehen, das Selbst und die Gruppe, als eine neue Einheit, ein Mehr, ein Wir erfahren lässt. Dieses löst nicht das Ich/Subjekt auf, sondern erweitert es“ (Hehl 2017: 50). Hier erfahren wir, wie wir vom ICH zum Wir werden. 4) Die vierte Ebene ist eine eher mystisch-spirituelle Ebene, die als die Gesamtheit allen Seins beschrieben werden kann.

Wer mehr über dieses Thema erfahren will, dem sei die Bachelor-Arbeit von Jonas Hehl empfohlen: „Als Wir fühlen – eine Grounded Theory des selbstorganisierten Zusammenseins in gemeinschaftsbildenden Erfahrungsräumen. Bayreuth 2017.

Weitere, hier zitierte Literatur:

Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Suhrkamp: Berlin 2016.

Rosa, Hartmut; Gertenbach, Lars; Laux, Henning & Streck, David: Theorien der Gemeinschaft zur Einführung. Junis: Hamburg 2010.